Kaninchen 2025: Poetisches und kostengünstiges Mehrfamilienhaus in St. Gallen

03.12.2025, SENN

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© Jeremiah Schwery

Das Kaninchen 2025 hüpft nach St. Gallen

Das mit dem diesjährigen Kaninchen ausgezeichnete Erstlingswerk von Studio Romano Tiedje ist auf mehrfache Art und Weise bemerkenswert. Was als Machbarkeitsstudie für die St. Galler Stiftung hausen + wohnen begann, entwickelte sich zu einem Direktauftrag und Herzensprojekt für das junge Büro. Das kostengünstige und dennoch poetische Mehrfamilienhaus ist Resultat der innigen Auseinandersetzung mit dem Ort, den früheren und aktuellen Bewohner:innen sowie den lokalen Unternehmer:innen und Handwerker:innen.

 

Das westlich von St. Gallen gelegene Sittertal ist weit über die Stadt- und Kantonsgrenzen bekannt. Das hängt einerseits mit dem dort jährlich Ende Juni stattfindenden Openair St. Gallen zusammen, andererseits mit der Kunstgiesserei St. Gallen, die in der ehemaligen Färberei angesiedelt ist und über internationales Renommee verfügt. Etwas weiter talaufwärts wurde Anfang des 20. Jahrhunderts an der Sittertalstrasse 18 ein Arbeiterhaus mitsamt Waschhaus für die Belegschaft eben jener ehemaligen Färberei gebaut. Das Haus wandelte sich über die Jahre und Jahrzehnte, und mit ihm die Bewohnerinnen und Bewohner – zuletzt beherbergte es drei kostengünstige Wohnungen.

 

Machbarkeitsstudie als Katalysator

Eingebettet in eine steile Topografie und in unmittelbarer Nähe zum Wald gingen die Jahre nicht spurlos am ehemaligen Arbeiterhaus vorbei. Insbesondere die aus dieser Lage resultierende Feuchtigkeit setzte der Substanz des Hauses zu. Das veranlasste die Stiftung hausen + wohnen, der das Haus gehört, eine Machbarkeitsstudie in Auftrag zu geben. Der Stiftungsrat beauftragte den St. Galler Architekten Luca Romano und die Berliner Architektin Lisa Tiedje mit dieser Aufgabe. Ein vorliegendes Gutachten sowie Gespräche mit Fachleuten offenbarten, dass das alte Arbeiterhaus nicht im Sinne von preiswerten Wohnflächen gemäss Stiftungszweck renoviert werden kann. Allmählich kristallisierte sich heraus, dass ein Ersatzneubau vonnöten ist.

Direktauftrag und Umzug des Studios ins Sittertal

Luca Romano und Lisa Tiedje erarbeiteten im Zuge der Machbarkeitsstudie Vorschläge für den Ersatzneubau, die den Stiftungsrat von hausen + wohnen nachhaltig überzeugten. Dieser votierte daraufhin für einen Direktauftrag an die beiden. Das konkrete Projekt startete bereits ab 2019, verzögerte sich jedoch aufgrund detaillierter Abklärungen rund um den Ortsbildschutz in der Landwirtschaftszone und dem angrenzenden Wald. 2020 gründeten die beiden schliesslich das Studio Romano Tiedje und zogen von Berlin in ein Studio im Sittertal, um sich dem Ersatzneubau vor Ort und mit der nötigen Musse annehmen zu können.

Die Poesie der Einfachheit

Aus der innigen Auseinandersetzung mit dem Ort, den zahlreichen Gesprächen mit den Bewohner:innen des Arbeiterhauses sowie auch den lokalen Handwerker:innen resultierte schliesslich ein stimmiger Vorschlag des jungen Studios für einen Ersatzneubau. Zum Schutz des Waldes wurde der neue Baukörper um 4 Meter Hang abwärts verschoben, wodurch ein grosszügiger Vorplatz und eine vierte Wohnung im Erdgeschoss möglich wurden. Der einfache Rohbau entspricht der aus Kostensicht erforderlichen Reduktion im Entwurf. Die primäre Konstruktion bleibt sichtbar, die Oberflächen sind unverputzt, pur und langlebig. Weitere Beispiele dafür sind der direkte Anschluss der Holz-Metallfenster an den Decken, die rohbehaltenen Türdrücker und Fenstergriffe, die schlanke Ausführung der Decken und Wände sowie der Verzicht auf zusätzliche Stürze. Die Schalungsqualität wiederum wurde niedrig gehalten und das Schalungsbild dem Ausführenden überlassen. Das Resultat ist eine Poesie der Einfachheit, die auch die Fachjury des von SENN gestifteten und vom Architektur-Magazin Hochparterre verliehenen, jährlichen Preises für ein architektonisches Erstlingswerk – dem Kaninchen – nachhaltig überzeugte.

Reminiszenzen an das ehemalige Arbeiterhaus

Indem die Architektur gleichzeitig auf den historischen Vorgängerbau verweist und diesen verfremdet, verleiht sie dem Mehrfamilienhaus eine ästhetische Eigenständigkeit. Die lebendige Waschputzfassade mit grünem Andeer Zuschlag, das gelb­leuchtende Unterdach, die grünen Fensterläden aus Metall, in Kombinati­on mit den glasierten Klinkern, erinnern an den Vorgängerbau und gliedern sich natürlich in das Ortsbild ein. Mittels einer leicht verdrehten Firstlinie und asymmetrischen Giebelfassaden wird eine subtile Gegenbewegung zur dominanten Topografie geschaffen. Das feine auskragende Blechdach unterstreicht die Einfachheit des Hauses. Balkone und eine Sitzbank aus feuerverzinktem Stahl ergänzen das Volumen und aktivieren den Aussen­raum, der fliessend in die an­grenzenden Wiesen und Wälder übergeht.

Entwurf bis hin zu den Möbeln

Dass sich das Studio Romano Tiedje mit Haut und Haar seinem Erstlingswerk verschrieben hat, zeigt sich auch daran, dass es für das Mehrfamilienhaus eigens Möbel und Lampen entwarf. Die kompakte Einbaukü­che etwa wird durch einen Küchenwagen aus Chromstahl ergänzt. Durch Rollen lassen sich diese Wagen in verschiede­nen Konfigurationen in den Wohnungen platzieren und ermöglichen eine flexible Nutzung des Grundrisses. Auch die Lampe und den Türgriff im Aussenraum haben die beiden entworfen. Die neuen Elemente aus feuerverzinktem Stahl heben sich bewusst vom Vorgängerbau ab – das Material setzt sich beim Treppengeländer im Innern fort. Generell lieben die beiden die Arbeit zwischen Architektur und Kunstproduktion mittels Tests und Ausprobieren mit unterschiedlichsten Materialien. Das zeigt sich auch darin, dass sie an ihrem neuen Wohn- und Wirkungsort im Sittertal ausgewählte Kunstproduktionen verantworten.