"Wir als Gesellschaft können es schaffen"
Kreislaufbauen bedeutet in unserer gebauten Realität in erster Linie die Wiederverwendung von Materialien, findet Kerstin Müller. Die Geschäftsführerin von Zirkular plädiert im Interview dafür, den Worten endlich Taten folgen zu lassen und beim Bauen stärker auf den ökologischen Fussabdruck zu achten. Das HORTUS sieht sie als Leuchtturmprojekt, das beweist, dass Neubauten sehr wohl mit einem sehr geringen Fussabdruck erstellt werden können.
Visualisierungen Herzog & de Meuron
Die Kreislaufwirtschaft ist ein Modell, bei dem bestehende Gebäude, Materialien und Produkte so lange wie möglich erhalten, wiederverwendet, repariert, aufgearbeitet und recycelt werden. «Wir stecken mittendrin im Kreislauf, denn wir leben in einer gebauten Umwelt», sagt Kerstin Müller in Bezug auf die Baubranche. Die Architektin ist Geschäftsführerin von Zirkular, die auf Fachplanung für Kreislaufwirtschaft und Wiederverwendung im Baubereich spezialisiert ist. Die Firma mit Sitz in Basel und Zürich ist hervorgegangen aus dem Baubüro situ.
Weil die Schweiz grösstenteils gebaut ist und die Baubranche nicht einfach von vorne anfangen kann, plädiert Kerstin Müller dafür, Materialien ein zweites Leben zu geben. Noch vor einigen Jahren betätigten sich die Mitarbeitenden von Zirkular aktiv als «Bauteiljäger:innen». Sie gingen mit offenen Augen durch die Stadt und registrierten die Rückbauten, um deren Materialien in weiteren Bauprojekten zu verwenden. «Wir sind einen grossen Schritt weitergekommen», sagt sie. «Heute kommen die Bauherrschaften auf uns zu und bitten uns, ihr Gebäude auf wiederverwendbare Teile hin zu prüfen.» Dazu gibt es auch verschiede öffentliche und private Plattformen, in denen Bauteile verzeichnet sind.
Auf dem Weg zu einem optimierten Kreislauf-Bauprozess
Kerstin Müller stellt ein wachsendes Bewusstsein für den Fussabdruck in der Branche fest. Jedoch werde leider mehr darüber geredet als gehandelt. Es gebe noch einige Hürden zu überwinden: «Der klassische Bauprozess ist auf den Neubau ausgelegt. Sämtliche Prozesse sind normiert und eingespielt. Bei der Material-Wiederverwendung müssen wir diesen effizienten Prozess erst noch finden. Bei jedem Projekt lernen wir diesbezüglich dazu», so die Architektin.
Ein Bau, der die Kreislaufwirtschaft einbezieht, ist im Moment noch teurer ist als ein Standardbau. Dass Kreislaufbauen teurer ist, liege vor allem daran, dass CO2 nicht so bepreist sei, wie es sollte. «Wir leben auf Kosten der künftigen Generationen», bringt es Kerstin Müller auf den Punkt. Bestimmte Produktionsabläufe und Materialien würden so künstlich billig gehalten, dagegen sei Handarbeit mit Schweizer Lohn teuer. Die Zirkular-Geschäftsführerin sieht in der aktuellen Krise eine Chance: «Materialien werden nun teurer und die Logik der Kalkulation, die lange galt, wird über den Haufen geworfen.»
Eine weitere Hürde für das Kreislaufbauen sind Normen. Die Kreislauf-Spezialistin spricht insbesondere die Energievorschriften an: «Es ist schade, dass hierbei der Betrieb im Fokus steht. Wir sind an einem Punkt angekommen, wo die Erstellung eines Gebäudes mit Standardmaterialien mehr CO2 und Energie kostet als später während seiner ganzen Lebensdauer. Die Normen müssen wir überdenken.»
HORTUS zeigt: es funktioniert
Auch beim Einbringen neuer Materialien in einen Bau wünscht sich Kerstin Müller ein Umdenken. Es müsse mit ökologisch nachhaltigen Materialien gebaut werden. Und zwar so, dass die einzelnen Rohstoffe wieder auseinandergenommen werden könnten. Holz sei dafür prädestiniert. Jedoch müsse man auch vorsichtig sein. «Wir können jetzt nicht ganze Wälder verbauen», meint sie.
Das HORTUS auf dem BaseLink-Areal bezeichnet Kerstin Müller als Leuchtturmprojekt. Das Gebäude zahlt seine Erstellungsenergie in einer Generation zurück und ist ab dann energiepositiv, gemäss der Bilanzierungsmethodik, die von SENN angewandt wird. «Ich war sofort begeistert. Schon von der Tatsache, dass sich überhaupt jemand mit dieser Fragestellung an einen Bau herangewagt hat, ohne anfangs zu wissen, ob und wie es funktioniert», so die Architektin. Das HORTUS sei nicht nur ein Symbol, sondern diene als Praxisbeispiel. «Für unsere Hoffnung, Energie und Kreativität müssen wir Bilder produzieren, auf die wir hinarbeiten. Das HORTUS ist ein Versprechen dafür, dass wir es als Gesellschaft schaffen können. Das gibt uns eine Perspektive», so Kerstin Müller. «Damit mehr Kreislaufbauten entstehen, braucht es auf allen Ebenen und in allen Funktionen Leute, die mithelfen. Wir sollten nicht auf die anderen mit dem Finger zeigen, sondern fragen: welchen Beitrag kann ich leisten?»