Beim Stadtkind Basel stehen Familien im Mittelpunkt

Nachhaltiges und kostengünstiges Wohnhaus ohne Verzicht auf räumliche Qualität

Die Basler Architektin Norma Tollmann hat mit ihrem Erstlingswerk «Stadtkind Basel» ein bauökologisch nachhaltiges Wohnhaus geschaffen, ohne auf räumliche Qualität zu verzichten. Dafür wurde ihr nun der Nachwuchspreis Kaninchen verliehen. Beim Entwurfsprozess standen die Bedürfnisse von Familien im Zentrum. Dazu passt, dass das Haus nicht den Anspruch hat, fertig und immer gleich zu sein. Im Gegenteil lässt es bewusst eine Aneignung durch die Bewohner:innen zu, wie die Architektin im Interview erzählt.

Was ist kurzgesagt die Geschichte des Wohnhauses Stadtkind Basel?

Als die Baurechtsparzellen im Entwicklungsareal ausgeschrieben wurden, war das eine Chance für viele junge Architekt:innen. Der Zuschlag gab mir die Möglichkeit, mich selbstständig zu machen. Dabei war ich gleichzeitig Projektinitiantin, Architektin, Teil der Bauherrschaft, und Frau des Bauleiters, Knut Maywald, von Stettler Architekten. Das ist eine aussergewöhnliche Rollenüberschneidung, die nicht einfach war, aber eine vertiefte Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Perspektiven ermöglicht hat. Kurz gesagt, ist das Stadtkind Basel das Ergebnis des Versuches, ein kostengünstiges, bauökologisch nachhaltiges Haus für Familien in der Stadt zu bauen ohne Verzicht auf räumliche Qualität.

Was zeichnet das Wohnhaus Stadtkind Basel aus und hebt es von einem «herkömmlichen» Haus ab?

Allem voran, dass die vermeintliche zukünftige Bewohnerschaft ein Mitsprache- und Entscheidungsrecht hatte. Ein Eigenausbau ist möglich und erwünscht. Die Küchen zum Beispiel waren anfangs ohne Geräte und Oberschränke. Die Materialien sind rohbelassen. Viele Oberflächenbehandlungen sowie die Gartengestaltung und Umsetzung haben die Bewohner:innen selbst gemacht. So lässt das Haus mehr Aneignung zu. Es hat nicht den Anspruch fertig und immer gleich zu sein. Das stiftet Identität.

Wie wichtig war das gemeinsame Element bei diesem Projekt?

Das Haus konzentriert sich auf die möglichst gute Erfüllung der Bedürfnisse von Familien. Die Grösse des Hauses mit sechs Wohnparteien ist überschaubar. Die Idee ist es, dass eine hausinterne Solidarität und ein Gemeinsinn entstehen. Die Bewohner begegnen sich oft und spontan, sie kennen sich, sie tauschen sich aus, sie helfen sich. In der Ausführung der Eigenleistungen haben sich zum Beispiel geplante und spontane Arbeitsgemeinschaften gebildet. Die Bewohner:innen leben nicht nur in ihrer eigenen Wohnung, sondern im ganzen Haus.

Was ist dein Lieblingsaspekt/-detail des Gebäudes?

Ganz kurz gesagt, die harmonische Kombination der unterschiedlichen Materialen und das geschossüber-greifende Wohnen.

Wie hat der unmittelbare Ort/Umgebung das Projekt geprägt?

Wir hatten damals das Glück, den Zuschlag zu bekommen für die Parzelle, von der aus man in den Grünraum zwischen Weinlager und dem Haus Lyse-Lotte blickt. Zwei Quartierwege treffen hier aufeinander. Somit war für uns klar, dass wir im Erdgeschoss unbedingt keine private, sondern neben der Eingangshalle eine gewerbliche Nutzung haben wollen, die dem Quartier dient. In den Obergeschossen haben wir die Küchen als Herzstück der Wohnungen, auf der zum Beckenweg orientierten Seite angeordnet, damit das Haus mit seiner belebten Seite und nicht mit den Schlafzimmern zur Strasse steht, sozusagen mit offenen Augen. Das Durchwohnen, das heisst, dass jede Wohnung zur Strasse und zum Hof orientiert ist, war uns wichtig, da der Hofraum sehr eng ist. Das Haus versucht nicht ein Industriegebäude in seinem Ausdruck nachzuahmen, ist diesem jedoch in Hinsicht auf seine pragmatische, einfache Bauweise ähnlich.

Gibt es genügend Gebäude in der Stadt, die auf Familienwohnen ausgerichtet sind?

Ich glaube nicht. Es gibt mehr und mehr Familien mit drei und mehr Kindern und auch zunehmend mehr Familien, in denen die Eltern getrennt leben, sowie alles dazwischen. Viele Eltern haben ausserdem das Bedürfnis Teilzeit zu arbeiten. Sie alle wollen familiengerecht und trotzdem kostengünstig zur Miete wohnen. Der Bedarf nach kostengünstigem Wohnraum und grossen Familienwohnungen in der Stadt ist bei langem nicht gedeckt. Auch die halböffentlichen Hofräume und der öffentliche Strassenraum in Basel berücksichtigen meiner Meinung nach die Bedürfnisse der Kinder noch zu wenig.

Welche Nachhaltigkeitskriterien erfüllt das Gebäude?

Das Haus versucht in jedem Aspekt nebst der Kostengünstigkeit die Anliegen an nachhaltiges Bauen zu erfüllen. Es ist in Hybridbauweise erstellt und entspricht den aktuell gültigen Anforderungen. Darüber hinaus ist es um strukturelle Effizienz, Anpassbar- und Reparierbarkeit bemüht. Wir haben uns bei der Wahl der Materialen immer auch das Abrissszenario vorgestellt. Was bleibt? Wir wollten unbedingt einen Haufen Sondermüll vermeiden. Meine Fragen waren immer: Geht es günstiger? Geht es umweltschonender? Geht es auch ohne? Weglassen spart Kosten und Graue Energie. Das Haus ist pragmatisch und konsequent gedacht und versucht nebenbei materielle und räumliche Qualitäten auszuspielen. Für ein gutes Leben braucht es eine angenehme und schöne Umgebung, das empfinde ich als sozialnachhaltig.

Warst du überrascht vom Gewinn des Kaninchens und was bedeutet dieser Nachwuchspreis für dich?

Ich hatte gehofft, dass es das Projekt in die engere Auswahl schafft, damit die Jury zur Besichtigung kommt. Das Projekt lässt sich viel besser vor Ort erläutern als in Text und Bild. Nach der Besichtigung hatte ich ein gutes Gefühl, aber als dann die Nachricht kam, war ich sehr überrascht und glücklich. Es ist mein erstes eigenes Projekt und es ist das erste Mal, dass meine Arbeit ausgezeichnet wird. Der Prozess Stadtkind war sehr lange und nicht nur einfach. Somit bedeutet mir die Auszeichnung enorm viel. Es fühlt sich grossartig an. Die Projekte, die in den letzten Jahren, das Kaninchen erhalten haben, bewundere ich sehr, daher bin ich stolz, diese Reihe weiterführen zu dürfen.

Über den Förderpreis «Kaninchen»

SENN stiftet im Rahmen der «Besten» von Hochparterre jährlich einen Preis für das beste Erstlingswerk in Architektur. Mit dem Erstlingswerk ist ein Projekt gemeint, welches ein Einzelner oder eine Gruppe geplant und in der Schweiz realisiert hat. Selbständig im eigenen Büro und nicht als Angestellte, so dass mindestens 50 Leistungsprozente gemäss SIA 102 erbracht worden sind.

 

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Fotos by Julian Salinas